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AutorenbildDipl.-Soz. Iris Wieg, HPP

Tabuthema "Depression bei Kindern"

In Deutschland sind viele Kinder von psychischen Erkrankungen betroffen. Das geht aus dem aktuellen Kinder- und Jugendreport der Krankenkasse DAK hervor. Danach leiden 1,9% der 10- bis 17-Jährigen an Depressionen, 2,2 % an Angststörungen. Eine glückliche Kindheit sieht wohl anders aus. Was läuft da schief?


So wohlmeinend der Tenor der Studie sicherlich ist: Man will die "Krankheit Depression" aus der Tabuzone herausholen und "flächendeckende ambulante Therapieangebote" für Betroffene schaffen - so sehr geht sie m. E. auch in die Irre. Sicherlich ist ein entspannterer Umgang mit Depressionen oder überhaupt mit psychischen "Störungen", so der offizielle Begriff, der in der ICD 10 (aktuelle Ausgabe der "International Classification of Deseases") zu diagnostischen Zwecken verwendet wird, äusserst wünschenswert. In meiner Praxis mache ich bisweilen immer wieder die Erfahrung, dass Klienten die Vorstellung haben, psychische Störungen könnten "irgendwie genetisch" bedingt sein. Das mögen die langen Schatten der Vergangenheit sein, die in diesem Fall sicher bis auf die unseligen Zeiten des deutschen Nationalsozialismus zurückgehen. Mit der wissenschaftlich fundierten und aus meiner Sicht auch der Alltagslogik ohne weiteres zugänglichen Überlegung, dass die Entstehung solcher "Störungen" (oder wie immer man es nennen will, wenn jemand "psychische Probleme" hat) immer einen multifaktoriellen Entstehungszusammenhang haben, hat das wenig zu tun. Dabei sollte doch jeder Mensch aus eigener Erfahrung wissen, wie schnell man in einen Teufelskreis negativer Gedanken und belastender Gefühle geraten kann. Es sind dann in der Regel drei Faktoren, die zur klinisch auffälligen Verschlimmerung führen: Die Beschaffenheit der sozialen Beziehungen, der allgemeine organische Gesundheitszustand und die psychische Ausgangslage. Ein Mensch, der wenig oder eher ungünstige Sozialkontakte hat, der zudem mit einem hohen Stresslevel klar kommen muss, und der womöglich dann auch noch ungünstige Persönlichkeitsmuster mit sich durch die Gegend trägt, gerät eher in emotionale Schieflage als jemand, bei dem es in allen drei Bereichen gut läuft. Das gilt für Kinder und Jugendliche umso mehr.


Dummerweise finden sich aber gerade Kinder und Jugendliche allzu oft in einer für sie sehr ungünstigen Ausgangslage. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und immer mehr Erwachsene haben Angst davor, den Anschluss an Erfolg und Wohlstand zu verlieren. Unsere Gesellschaft ist zwar nach wie vor eher wohlhabend, aber die Schere zwischen arm und reich ist gross und geht stetig weiter auseinander. Es ist nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen zu können, dass es den Kindern "einmal besser gehen wird". Ganz im Gegenteil: Um das gegebene Wohlstandslevel halten zu können, bedarf es inzwischen für viele Menschen grosser Anstrengungen. Und dieser Druck wird leider oft ungefiltert an die Kinder weitergegeben. Kinder und Jugendliche sollen gute Leistungen in der Schule vorweisen können, sonst hängt der Haussegen sehr schnell sehr schief. Gleichzeitig haben Eltern immer weniger Zeit, sich aktiv um Hausaufgaben und Freizeitaktivitäten ihrer Kinder zu kümmern. Hausaufgaben können - je nach Schule und Schultyp - heute sehr anspruchsvoll sein. Wechselnde pädagogische Konzepte scheitern an der Lebenswirklichkeit, denn Kinder werden zwar inzwischen zu grösstmöglicher Freiheit, aber weniger zu Durchhaltevermögen beim Lernen neuer Sachverhalte ermutigt. Ihre Konzentrationsfähigkeit und natürliche Lust am Lernen ist oft bereits allzu früh durch elektronische Medien in ein eher passives Verhalten abgelenkt. Eine weitere jüngst veröffentlichte Studie zum Thema Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen warnt vor den gesundheitlichen Folgen.


Was also tun? Ich meine, einfache Lösungen gibt es hier nicht, aber es gibt ein paar einfache Ansatzpunkte, um Depressionen bei Kindern gerecht zu werden ohne dei Betroffenen unnötig zu pathologisieren. Bei Familien, die mit einem Kind oder Jugendlichen zu mir kommen, frage ich grundsätzlich erst einmal die Eltern, welche Belastungen sie in ihrem Alltag meistern müssen. Bisweilen ist das Stresslevel der Eltern so hoch, dass die Kinder keine Chance mehr haben, gehört zu werden. Dann muss man die Stressquellen klären: Wer leidet objektiv an negativen äusseren Umständen, und wer macht sich selber Druck aufgrund möglicherweise überzogener Erwartungen? Und dabei werden alle befragt. Alleine der Perspektivwechsel weg vom vermeintlich "kranken" Kind hin zu den (normalen?) Eltern, wirkt bisweilen Wunder! Bestenfalls kann man sich wieder ein wenig von überzogenen und ungünstigen Erwartungen oder auch nur von der eigenen Problemsicht distanzieren und Zeit frei machen für so vermeintlich einfache Dinge wie miteinander reden, spielen, lachen ... Wenn sich herausstellt, dass Eltern existentielle Sorgen haben, hat das Priorität. Denn auch die einfachsten Dinge des Alltags werden dann zur Belastung. Wenn dann diese wichtigsten Fragen geklärt sind, kann man - wieder an alle - die Frage richten: "Was möchten Sie / möchtest du gerne mal wieder zusammen machen?" Und daraus kann sich - bestenfalls - eine ganz neue Familiendynamik entwickeln, die dann auch wenig überraschend einen äusserst positiven Einfluss auf alle hat.


Zurück zum Ausgangsthema: Egal ob Kind, Jugendlicher oder Erwachsener: Ein Mensch, der seine seelischen Grundbedürfnisse nach Anerkennung, Wertschätzung und Nähe ständig zurückstellen muss, wird irgendwann depressiv, oder aggressiv - oder beides. Wir alle brauchen das Gefühl, dass unser Tun sinnvoll und richtig ist - zumindest in Teilen. Und Kinder brauchen Eltern, die ihnen dieses Gefühl vermitteln und sie aktiv unterstützen, wenn sie lernen sollen so gut zu sein wie sie es (aus Sicht der Eltern) könnten. Wenn man das dauerhaft ignoriert oder missachtet, werden Betroffene entsprechend reagieren. Wenn Sie sich Sorgen um ihr Kind machen, fangen Sie bei sich selbst an und stellen Sie sich die Frage: Gibt es bei uns ein ausgewogenes Verhältnis von Pflichten und Rechten? Erwarte ich Dinge von meinem Kind, die ich selber gar nicht leisten kann? Gibt es noch gemeinsame (Frei-)Zeit? Kinder können noch nicht selbst für sich entscheiden, als Erwachsene tragen wir die Verantwortung für ihr Wohl. Diese Aufgabe sollten wir uns hin und wieder möglichst tabulos bewusst machen, um zu überprüfen inwieweit wir ihr denn eigentlich gerecht werden.


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